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07.11.2019: Rede der Präsidentin des Italienischen Senats Elisabetta Casellati an der Gedenkstätte Berliner Mauer

Mit bewegenden Gefühlen überbringe ich Ihnen meinen persönlichen Gruß und den des Senats der Italienischen Republik zum dreißigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer.

Heute hier zu sein, hat für mich eine tiefe Bedeutung: Was ein Symbol für die Spaltung zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und freiheitlichen Demokratien, zwischen der abgeschotteten Welt erstickender Sicherheitsapparate und für die Zukunft offenen Gesellschaften war, kann uns heute Hoffnung und Vertrauen in das Morgen verleihen.
Die Abfolge der Ereignisse von 1989 geschah in einem so unerwarteten Crescendo, dass das Verständnis der Bürger und Beobachter nicht Schritt halten konnte.
Auch wenn der politische Frühling mit der offiziellen Anerkennung und dem anschließenden Eintritt der Solidarność in die polnische Regierung begonnen hatte, schien die Unterdrückung des chinesischen Studentenaufstandes auf dem Platz des Himmlischen Friedens das Rad der Geschichte unerbittlich zurückgedreht zu haben.
Doch dem war nicht so.

Die mutige Wiedereröffnung der ungarischen Grenze zu Österreich am 10. September gab den Ostdeutschen die Möglichkeit, die DDR-Kontrollen zu umgehen und sich mit ihren Brüdern im Westen wiederzuvereinen.
Von da an war die Dynamik unaufhaltsam.
Die Auswirkungen der neuen sowjetischen Politik – Glasnost und Perestrojka – ließen sich nicht mehr aufhalten, es gab keine Alibis mehr, um die Bestrebungen und Träume einer durch jahrzehntelange Diktatur erschöpften Bevölkerung aufzuhalten.
Als am 9. November 1989 um 18.57 Uhr die zwei scheinbar harmlosen Worte – „ab sofort“ – Auslöser für die Überwindung der Grenzbarrieren waren, die Berlin verwundet und gedemütigt hatten, glich die Wirkung einer Explosion.
Der Versuch der ostdeutschen Machthaber, den Druck der Bevölkerung durch begrenzte Zugeständnisse einzudämmen, kollidierte mit dem Offensichtlichen, der Vernunft und der Kraft der Wahrheit.
Der Wunsch nach Wiedervereinigung war überwältigend. Stärker als jede militärische Ordnung überwand er sogar Vorbehalte, Zögern und Erwartungen der europäischen Regierungschefs. In den europäischen Ländern gab es nämlich Befürchtungen, dass der Mauerfall Gorbatschow übermäßig schwächen könnte, andere hielten eine Wiedervereinigung Deutschlands binnen kurzer Zeit für unmöglich, wieder andere fürchteten Repressalien des pro-sowjetischen Regimes.
Es gab kein Internet, es gab keine Möglichkeit, Informationen in Echtzeit zu übertragen, wie es heute der Fall ist; aber von Haus zu Haus, von Familie zu Familie war die Mundpropaganda stärker als alles, was bis dahin geschehen war.

Vor, unter und auf der Mauer feierten die freigelassenen und ungläubigen Ostberliner, bewunderten die Lichter und Schaufenster, die sie sich bis dahin nur hatten vorstellen können; die Westbürger, stark in ihrem Stolz, den die Trennung nicht beschädigt hatte; die Alten, die noch die Tragödie des Krieges vor Augen hatten und sich nie mit einem endlosen Fegefeuer abfinden wollten; vor allem waren da junge Menschen.
Die Generationen, die nichts mit der Naziherrschaft und nichts mit dem Kommunismus zu tun hatten.
Es waren die Jugendlichen, die heimlich jeden Tag versuchten, ihre Fernseher auf die Sendungen aus dem Westen einzustellen, die nie aufgehört hatten, sich wirklich deutsch, sich wirklich europäisch zu fühlen.
Diese düstere Betonmauer, diese 160 Kilometer maximalistische Utopie, die bald zur Grenze eines Gefängnisses unter freiem Himmel wurde, hatte ihren Schrecken für immer verloren.
Seit 1961 waren Hunderte von Menschen getötet worden. Männer, Frauen, Kinder und Alte, Opfer von Scharfschützen, denen man befohlen hatte, niemanden hinüberzulassen.
Der 9. November machte diesen Schrecken zunichte.
Bundeskanzler Helmut Kohl, einer der Väter des vereinten Deutschlands und einer der Väter der Europäischen Union, sagte im Gedanken an diese Stunden: „Der Tag des Mauerfalls war der Tag des Glücks, aber auch der Tag der Schande. Doch die jungen Leute werden die Wunden der Mauer überwinden.“

Vom nächsten Tag an prallte die moralische Kraft des vereinten Berlins auf die Widersprüche, die Europa noch immer als Geisel hielten, und fegte sie für immer hinweg.
Bulgarien, Tschechoslowakei, Rumänien: Die Blöcke existierten nicht mehr. Es gab den eisernen Vorhang nicht mehr, den Churchill bereits im April 1945, mitten in der Krise von Triest, erwähnt hatte.
Und wie könnten wir uns nicht daran erinnern, was am 1. Dezember 1989 in Berlin, Deutschland und der Welt geschah: Während das deutsche Parlament im Grunde das politische Monopol der Kommunistischen Partei beendete, empfing Papst Johannes Paul II. im Vatikan fast zeitgleich Michail Gorbatschow.
In diesen 30 Jahren nach dem Fall der Mauer haben wir den Fall der Grenzen in Europa folgen lassen.

Der freie Waren- und Personenverkehr sowie der Erweiterungs- und Integrationsprozess der europäischen Staaten bleiben nach wie vor die beste Garantie, die wir an künftige Generationen weitergeben können, damit sich die Fehler und Schrecken der Vergangenheit nicht wiederholen.

70 Jahre Frieden, Entwicklung und Wohlstand sind das Ergebnis eines Weges der Freundschaft und Solidarität, den wir in jeder Hinsicht für unumkehrbar halten dürfen.
Das ist ein Prozess, in dem es durchaus auch Kritikpunkte, Widersprüche und Rückschläge gegeben hat.
Ich denke an den Brexit, den Mangel an Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten bei der Steuerung der Migrationsströme, die Verzögerungen bei der Umsetzung einer gemeinsamen Außenpolitik.

Der Weg zur vollständigen europäischen Integration hat jedoch solide Wurzeln und tiefere Gründe, die stärker sind als alle anderen Entwicklungen.
Das lehrt uns gerade dieser 9. November 1989.
Neben Berlin und den großen deutschen Städten erinnere ich mich an viele junge Menschen, die in den folgenden Tagen und Wochen ihre Freude auf den Plätzen und an den Universitäten in Italien zum Ausdruck brachten.
Von Rom bis Mailand war der Sieg der Freiheit der Sieg einer ganzen Generation, ein gemeinsamer Sieg.
Ich erinnere mich auch daran, dass das italienische Parlament 2005 den 9. November zum „Tag der Freiheit“ erklärte, um an die Ereignisse zu erinnern, die Lehren daraus weiterzugeben und alle Versuchungen neuer Spaltungen abzuwenden.
Angesichts dieser Gefühle betrachte ich die Freundschaft zwischen Italien und Deutschland als einen entscheidenden Faktor für die Stabilität und das Wachstum des gesamten europäischen Aufbauwerks.
Ich freue mich, dass die Vertreter der italienischen Gemeinschaft der Comites heute anwesend sind, und danke ihnen dafür, dass sie mit ihrer Tätigkeit die italienische Identität in Deutschland würdigen, stärken und diese enge und kontinuierliche Beziehung des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern jeden Tag konkret mit Leben füllen. Es lebe Berlin, es lebe die Freundschaft unter den Völkern.