Zwischen dem Innehalten an der Gedenktafel mit Ernesto Oliveros Gebet in Gedichtform und Donizettis Messa da Requiem ist der Raum für Worte notwendigerweise begrenzt und nur auf ein paar nüchterne Überlegungen ausgerichtet.
Heute Abend stehen wir hier in Bergamo vor dem Italien, das gelitten hat, das verletzt wurde, das geweint hat; und das, obgleich es nun sein Leben vollständig wieder aufnehmen will, dennoch weiß, dass es das Geschehene nicht vergessen kann.
Mit meiner Teilnahme möchte ich die Nähe der Republik zu den Bürgern dieser so hart getroffenen Gegend verdeutlichen.
Bergamo steht heute für ganz Italien, als Herz der Republik, welche sich vor den Tausenden Frauen und Männern verneigt, die durch eine noch weitgehend unbekannte Krankheit getötet wurden. Die Krankheit bedroht weiterhin die Welt, nachdem sie diese ganz plötzlich zum Stillstand oder zumindest zu einer Verlangsamung ihres Lebensrhythmus gezwungen hat.
Heute haben wir uns hier versammelt, um zu erinnern. Um der vielen Menschen zu gedenken, die nicht mehr da sind, der Trauer, die so viele Familien getroffen hat und die in unseren Gemeinschaften eine Leere hinterlässt, die nichts ausfüllen kann.
Das Schicksal so vieler Menschen und ihrer Familien hat sich plötzlich verändert. Leben und innige Beziehungen wurden auseinandergerissen, oft ohne eine letzte Umarmung, ohne einen letzten Abschied, ohne die Hand eines Familienmitglieds halten zu können.
Wir alle bewahren in unseren Köpfen Bilder, die wir nicht mehr vergessen können. Diese Chroniken eines Schmerzes haben das Bewusstsein und die Sensibilität des ganzen Landes berührt. Wer sie jedoch persönlich erlebt hat, trägt bleibende Narben davon.
Diese von so viel intensiver Trauer geprägten Monate haben uns sicherlich verändert. Sie haben unser Leben, unsere Beziehungen und unsere Gewohnheiten in weiten Teilen anders geprägt. Die Feststellung, dass unser Leben von nun an nicht mehr sein wird wie vorher, ist in keiner Weise banal.
Es wird nicht sein wie vorher, denn geliebte Menschen, Freunde und Kollegen werden uns fehlen.
Es wird nicht das gleiche sein wie zuvor, denn das kollektive Leid, das wir plötzlich erfahren haben, hat sicherlich im Leben eines jeden die Art und Weise beeinflusst, wie wir die Realität betrachten, die Prioritäten, den Wert, den wir Dingen beimessen, die Bedeutung, sich füreinander verantwortlich zu fühlen.
Erinnern bedeutet daher, zunächst einmal unserer Toten zu gedenken; und es bedeutet auch, sich das Geschehene vollständig bewusst zu machen, ohne der illusorischen Versuchung zu erliegen, diese dramatischen Monate auszuklammern, um einfach weiter zu machen wie vorher.
Erinnern bedeutet, ernsthaft und ganz genau darüber nachzudenken, was nicht funktioniert hat, über Systemfehler, über Fehler, die sich nicht wiederholen dürfen.
Es bedeutet gleichzeitig, sich den Wert dessen ins Gedächtnis zu rufen, was positiv war. Die außerordentliche Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit von Ärzten, Pflegern, Gesundheitspersonal, Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung, Frauen und Männern des Zivilschutzes, des Militärs, der Ordnungskräfte und freiwilligen Helfer. Ihnen gebührt unser Dank: heute und in der Zukunft.
Hier – wie auch anderswo – ließ sich der Wert und die Tiefe dieser Erfahrungen konkret ermessen.
Wie die Bürgermeister – die, daran möchte ich auch heute hier erinnern, in den schwierigsten Tagen mit größtem Einsatz gearbeitet haben – wissen, sind in allen Gemeinden zahlreiche Solidaritätsnetzwerke gebildet und in Gang gesetzt worden.
Eine stille, aber reale Mehrheit unseres Volkes hat gehandelt, ohne etwas dafür zu verlangen; dank ihr konnte das Land die vielen Schwierigkeiten bewältigen und weiter leben.
Pflichtbewusstsein und guter Wille jedes Einzelnen – diese Ressourcen bilden zusammen mit der von einer großen Mehrheit unserer Mitbürger gezeigten Opferbereitschaft und Beachtung der Regeln ein wertvolles Gut für das Land, das nicht verschwendet werden darf.
Erinnern wir uns an die moralische Kraft, die wir verspürten, als wir, eingeschlossen in unseren Häusern, hin- und hergerissen zwischen Angst und Hoffnung, anfingen, uns zu fragen, wie unsere Zukunft aussehen würde. Die Zukunft unseres Italiens.
Die Erinnerung bürdet uns Verantwortung auf. Kümmern wir uns nicht um sie, laufen wir Gefahr, in Trägheit, Faulheit, und alten Lastern gefangen zu bleiben, die es zu überwinden gilt.
Was geschehen ist, müssen wir nun jedoch überwinden, indem wir nach vorne blicken. Mit dem Willen zur Veränderung und zum Wiederaufbau, den andere Generationen vor uns besaßen.
Der Weg zum Neustart ist schmal und steil. Er muss mit Mut und Entschlossenheit zurückgelegt werden. Mit Beharrlichkeit, mit Ausdauer, mit Opferbereitschaft.
Das sind die Stärken dieser Region, die heute zu ganz Italien sprechen, um zu sagen, dass wir gemeinsam vertrauensvoll in unsere Zukunft blicken können.
Bergamo, 28.06.2020