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Namensartikel des deutschen Botschafters in Rom, Viktor Elbling und des italienischen Botschafters in Berlin, Luigi Mattiolo: „Gelebte gemeinsame Werte im Geiste Adenauers und De Gasperis“ (Die Welt, 20.12.2020)

Der deutsche Botschafter Viktor Elbling und sein italienischer Kollege Luigi Mattiolo schreiben aus Anlass von 70 Jahren diplomatischer Beziehungen über das enge Verhältnis von Deutschland und Italien.

„Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde die Hoffnung für viele. Sie ist heute Notwendigkeit für alle“. Konrad Adenauers Vision eines geeinten Europa verband ihn mit einem anderen großen Staatsmann, Alcide de Gasperi. Beide trieben zusammen mit Robert Schumann mit Leidenschaft und politischer Weitsicht die Gründung der Europäischen Gemeinschaft voran. Adenauers erste offizielle Auslandsreise als Kanzler führte ihn im Juni 1951 nach Rom – beileibe keine Selbstverständlichkeit nach den dramatischen Folgen des Kriegs und den nationalsozialistischen Gräueltaten während der Besatzung 1943-45.

Heute, 70 Jahre nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen, verbinden uns gelebte gemeinsame Werte und Interessen auf allen Ebenen. Wir sind EU-Gründungsmitglieder, im G7- und G20-Rahmen setzen wir uns für multilaterale Lösungen globaler Herausforderungen ein, als Partner in der NATO stehen wir für eine enge transatlantische Bindung sowie für kollektive Sicherheit ein, in vielen Friedenseinsätzen weltweit – von Afghanistan bis zum Libanon – leisten wir einen gemeinsamen Beitrag für Konfliktprävention und Stabilisierung.

130 Milliarden Euro Handelsvolumen

Unsere Beziehung ist eine Erfolgsgeschichte: Italien und Deutschland sind mit einem Handelsvolumen von über 130 Mrd. Euro jährlich wirtschaftlich engstens miteinander verflochten. Die Integration der Unternehmen geht so weit, dass während des nationalen Lockdown im Frühjahr in Italien die deutsche Automobilindustrie ihre Fertigung zeitweise einstellen musste, weil die benötigten Komponenten von der italienischen Industrie nicht geliefert werden konnten.

Nirgendwo sonst auf der Welt unterhält Deutschland so viele Kultureinrichtungen wie in Italien, dies teilweise seit fast 200 Jahren. Gesellschaftlich verbindet uns Einzigartiges: Im Laufe der Jahrzehnte kamen über vier Millionen Menschen als sogenannte „Gastarbeiter“ aus Italien nach Deutschland und trugen entscheidend zum Wiederaufbau und einer neuen Kultur des Zusammenlebens in Deutschland bei. Es gibt über 400 deutsch-italienische Städtepartnerschaften, über 800.000 italienische Mitbürgerinnen und –bürger prägen das Lebensgefühl in Deutschland mit.

Wie eng wir miteinander verbunden sind, hat sich zuletzt ganz konkret während der Pandemie gezeigt. In ihrem Verlauf wuchs in allen Mitgliedstaaten das Bewusstsein, dass man dieser epochalen Herausforderung auf europäischer Ebene im Geiste der Einigkeit und Solidarität entgegentreten muss. Es gab konkrete Zeichen der Unterstützung für die am stärksten betroffenen Regionen, wie im Falle der 44 Patienten aus der Lombardei, die in deutschen Kliniken behandelt wurden.

Kraftvolle und solidarische Antwort auf die Folgen der Pandemie

In wenigen Tagen endet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Italien und Deutschland haben während dieses außergewöhnlichen deutschen Semesters besonders eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Insbesondere die historische Entscheidung für Next Generation EU mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro ist eine gemeinsame kraftvolle und solidarische Antwort aller EU-27 auf die Folgen der Pandemie.

Auch außenpolitisch wollen wir gemeinsam die EU handlungsfähiger machen. Tektonische Machtverschiebungen und zunehmende Großmächte-Rivalitäten zeigen: Wir werden in dieser Welt nur bestehen, wenn wir als Europäer zusammenhalten. Deshalb setzen wir uns gemeinsam für eine strategische europäische Souveränität ein, von einer wirklich gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zu digitaler Souveränität, damit die Europäische Union wirkungsvoll zur Gestaltung einer regelbasierten multilateralen Ordnung beitragen und unsere gemeinsamen europäischen Werte zur Geltung bringen kann.

Ein Beispiel für europäisches Engagement als „game changer“ im Zusammenspiel mit internationalen Partnern ist der Berliner Prozess zu Libyen, den wir gemeinsam initiiert haben und der heute, ein Jahr nach der Berliner Konferenz, greifbare Früchte trägt: Die Konfliktparteien haben sich auf einen Waffenstillstand verständigt, der hält, es gibt einen Termin für Wahlen, die Ölblockade ist aufgelöst. Libyen ist ein zentrales Beispiel für ein immer wichtiger werdendes europäisches Engagement in unserer südlichen Nachbarschaft und darüber hinaus.

Positive Dynamik nutzen

Wir befinden uns inmitten einer neuen Phase europäischer Integration mit gegenseitiger Solidarität und Verantwortung. Mit der Einigung auf Next Generation EU und einen mehrjährigen Finanzrahmen von insgesamt 1,8 Billionen Euro haben wir gezeigt, dass Europa in der Lage ist, kraftvoll auf einzigartige Herausforderungen zu reagieren und gleichzeitig weitere Integrationsschritte zu vollziehen.

Es gilt nun, diese positive Dynamik zu nutzen und uns als EU für das kommende Jahrzehnt aufzustellen. Unsere Gesellschaften werden enorme Anpassungsprozesse durchlaufen. Mit der Ausrichtung auf zukunftsorientierte Aufgabenbereiche wie Klimaschutz und Digitalisierung haben wir die große Chance, unsere Länder zukunftsfest zu machen, beispielsweise durch gemeinsame innovative Projekte wie die europäische Cloud-Infrastruktur Gaia X oder die verstärkte Kooperation bei neuen Formen der Energiegewinnung wie grünem Wasserstoff.

Wenn wir das Migrationsphänomen in einem europäischen Rahmen im Geiste der Solidarität gemeinsam anpacken, wird es uns gelingen, auch diese epochale Herausforderung für die Europäische Union zu meistern.

„Man muss die nationalen Interessen überwinden“

Dies gilt auch für die europäische Koordinierung bei Covid-19. Staatspräsident Mattarella und Bundespräsident Steinmeier haben bei ihrem gemeinsamen Treffen im letzten September in Mailand vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie, die unsere beiden Länder auch in diesen Tagen vor große Herausforderungen stellt, die gemeinsame europäische Solidarität bekräftigt.

Europas Integration in all diesen Bereichen voranzutreiben ist im Interesse von Italien und Deutschland. „Man muss die nationalen Interessen überwinden“. Diese Worte Alcide de Gasperis haben auch Jahrzehnte später nichts von ihrer Gültigkeit verloren. In diesem Geiste stehen Italien und Deutschland vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Geschichte in der Verantwortung, ein Europa voranzubringen, das einig, innovativ und solidarisch ist im Inneren und stark nach außen, ein Europa, das die Freiheit schützt und seine Werte und Interessen in der Welt vertritt. Ein solches Europa wird mehr denn je gebraucht.

Die Autoren sind Deutschlands Botschafter in Rom beziehungsweise Italiens Botschafter in Berlin.